Typografische Wortcollagen von Jürgen Forster  |  Hommage an eine Zahl

Sieben Nachrichten aus der Sieben-Letter-Welt, 7-teilige Typografie-Serie, C-Print auf Leinen/Keilrahmen,  je 60 x 60 cm, 2017
Sieben Nachrichten aus der Sieben-Letter-Welt, 7-teilige Typografie-Serie, C-Print auf Leinen/Keilrahmen, je 60 x 60 cm, 2017

s i e b e n   m a l   s i e b e n   m a l   s i e b e n

Die hier gezeigten typografischen Kompositionen des Druckgrafikers und Journalisten Jürgen Forster entstanden 2017 für die Ausstellung SIEBEN der Bonner Künstlergruppe SEVEN im Künstlerforum Bonn. Das Kunsthaus Rehau zeigte die Arbeiten vom 26. Juli bis Ende August 2019 unter dem Titel "Phänomene der Sprach-Kunst in Wortbildern aus Lettern und als Code". An der Ausstellung, die von Eugen Gomringer eröffnet wurde, waren außerdem der Autor und Lyriker Franz Mon und der Fotograf Jürgen Ostarhild beteiligt.

Aus rund 15.000 Wörtern mit sieben Buchstaben aus dem deutschen

Sprachraum wählte Jürgen Forster für seine typografischen Kompositionen sieben mal sieben mal sieben = 343 aus. Je sieben davon bilden eine Textzeile, sieben Textzeilen wiederum ergeben einen Siebenzeiler, je sieben Siebenzeiler sind auf sieben  Bildkompositionen angeordnet – eine spielerische Hommage an die Zahl Sieben, dem Titel der Bonner Ausstellung von 2017.




b a n a l ,   t r i v i a l ,   k o m i s c h,   a b s u r d

Die Textzeilen in den grafischen Kompositionen haben den Charakter kurzer Nachrichtentexte oder Headlines. Sie sind als Texte konkreter Dichtung in teils banalen und trivialen, teils auch komischen oder absurden Zusammenhängen miteinander verbunden.

Der formalen Strenge in der Auswahl einer bestimmten Wortgattung

steht eine nicht erfassbare Zahl von Möglichkeiten gegenüber, den Sinn der Wortcollagen zu deuten oder Bedeutungszusammenhänge zu vermuten.

BetrachterInnen und LeserInnen sind eingeladen, den künstlerischen Prozess durch eigene Sinn-Kombinationen weiterzuführen.




D i e   S t r u k t u r   v o n   W o r t c o l l a g e n

Collagen sind absichtsvoll zusammengetragene Sammlungen aus erfundenem und vorgefundenem Material. Entscheidend für die Auswahl von Einzelteilen sind im bildnerischen Bereich ästhetische Momente, bei der Entstehung von Wortcollagen – je nach Zielrichtung ­– eher semantische Motive. Weil in der Collage jeder Begriff isolierbar ist und nach seiner Herkunft aus einem anderen Zusammenhang befragt werden kann, erinnert der Schriftsteller und Essayist Helmut Heißenbüttel an den Prozess, der sich beim Lesen von Wortcollagen abspielt: Jeder Leser, so stellt er fest, ist mit den eigenen Erfahrungs- und Erinnerungsreflexen beteiligt, so dass sich beim Lesen eine nicht bestimmbare Konstellation ergibt, die er „individuelle Tiefendimension“ nennt.

 

Textliche Nachbarschaft

Über die Erfahrungs- und Erinnerungsreflexen hinaus ist nach Heißenbüttel aber auch die textliche Nachbarschaft mit ihren

Verkettungen für die Lesart und Gestik des Textes maßgebend. Und daraus folge, dass sich das Interesse des Lesers an den einzelnen Versatzstücken auf die Tiefendimension richte. Das Interesse werde von Aussagen gefüttert, die die Gefühlsskala vom Banalen bis zum Schauderhaften abtasten.

 

Umgeleitete Gedankensprünge

Bei der Entstehung der „Nachrichten aus der Sieben-Letter-Welt“ standen bei der Materialauswahl semantische Momente im Vordergrund. Es wurden bewusst Wörter mit Bedeutungsnachbarschaft miteinander verbunden. Die auf diese Weise provozierten Assoziationen werden unterbrochen, wenn ein neuer Begriff den vermuteten Bedeutungszusammenhang stoppt oder in eine andere Richtung lenkt. Je nach verfügbarem Wortmaterial kann (und darf) diese Wendung rätselhaft und unlogisch sein.




E i n e   F ü l l e   v e r s t e c k t e r   B e z i e h u n g e n

„Dem Verzicht auf die Krücken der konventionellen Syntax verdankt die konkrete Poesie die Simplizität ihrer Texte. Sie erscheint nur so lange karg und reduziert, bis ihre eigentümlich neuen syntaktisch-semantischen Dimensionen erkannt sind, die den Betrachter instand setzen, eine Fülle von versteckten Beziehungen herzustellen und die Intensität des Einfachen zu erfahren. So gelesen, wirken diese Texte als Alternative zum zeitgenössischen Sprachschwall, als

unaufdringliche, aber radikale Kritik an der Masse von Gerede, dessen Hervorbringer nicht wissen, dass sie mit Tausenden fertiger Versatzstücke hantieren.“

 

Zitiert aus Franz Mon: Über konkrete Poesie, 1969; neu erschienen in Franz Mon: Sprache lebenslänglich. Gesammelte Essays, herausgegeben von Michael Lentz, S. Fischer Verlag, 2016




K o n k r e t e   T e x t e   s e h e n ,   l e s e n   u n d   v e r s t e h e n

„Im Konzept der konkreten Semantik ist implizit immer der Prozesscharakter, die dynamisch offene Struktur konkreter Texte, angesprochen. Die Rezeptionsbedingungen haben sich geändert: Das Kunstwerk wird nicht mehr nur als statisches Endprodukt angesehen, sondern als Stufe in einen andauernden Prozess: als Material zu möglichen Sprachgebräuchen, als Aufforderung zur Aktivität.“

 

„Konkrete Kunst ist zwar eine puristische Kunst, Reduktion ist sie aber nur in der Verweigerung der mimetischen und informativen Funktion. Als künstlerisches Gebilde zeigt sich das konkrete Kunstwerk als äußerst komplexes, sinnliches und vielfältig individuell rezipierbares Objekt, da es gerade die formale und semantische Fülle der Minimalstrukturen sucht.“

 

„Der Leser muss – um zur adäquaten Rezeption zu gelangen – von seinem eingeübten Kommunikationsschema abweichen, er muss     

das Verfahren konkreter Semantik erkennen bzw. kennen und vollziehen. Die meisten Negativ-Urteile über konkrete Poesie scheitern an dieser ästhetischen Distanz. Wer nach Mitteilung sucht, muss zu einem Fehlurteil kommen ...“

 

Zitiert aus Christina Weiss, Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten und nach-konkreten Texten. Verlag für moderne Kunst, Zirndorf und Autorin, 1984

 

 

 

„die konkrete dichtung liefert keine ergebnisse. sie liefert den prozess des findens. /.../ sie ist bewegung. ihre bewegung endet im leser auf verschiedene weise.“

 

Zitiert aus Claus Bremer, Konkrete Dichtung in: Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie. De Gruyter, 1974




7 0   J a h r e   K o n k r e t e   P o e s i e

Die konkrete Dichtung wurde seit den ersten Versuchen vor rund 70 Jahren weltweit von zahlreichen Autoren der modernen Literatur fortentwickelt. Einen Überblick über die Anfänge konkreter Poesie und ausgewählte Beispiele wegweisender Arbeiten von mehr als 70 Schriftstellern bietet die Anthology of concrete poetry, erschienen 1967 bei der legendären Something Else Press. Wichtige Wegbereiter waren Eugen Gomringer in Deutschland und die Noigandres-Gruppe in Brasilien (Noigandres = frei übersetzt „was Langeweile vertreibt“).

Emmet Williams, der Redakteur der Anthologie, charakterisiert die konkrete Poesie so:

Es handelt sich um Dichtung, die über die Paraphrasierung hinausgeht, die erwartet, dass der Leser sie vollendet oder sogar erst sichtbar macht – eine Dichtung der unmittelbaren Darstellung des Wortes. Statt einer verschnörkelten Aneinanderreihung von Wörtern, wird das Wort als semantisches, visuelles und phonetisches Element der Sprache als Rohmaterial verwendet, wie es die frühere Dichtung so nicht kannte.